Presse

Kritik an Chinas Führung

Xu Pei, die Dichterin, deren Unterlippe zittert, wenn sie über ihre Heimat spricht, die sich über einen Vergleich zwischen dem kommunistischen Regime in China und deutscher Nazi-Diktatur habilitieren wollte, aber keinen Professor fand, sitzt auf der Empore des Café Fromme in der Breite Straße und spricht über das, was sie nicht verstehen will: den Pakt des Westens mit China, sie nennt es: „Das Schönreden eines menschenverachtenden Staates, nur um der Wirtschaftsbeziehungen willen.“

Auf der Empore ist kein Mensch, sogar die Kellnerinnen lassen sich nicht blicken. Die 45-Jährige trägt einen blütenweißen Pullover, ihre Haut ist mädchenzart; doch hinter der glatten Stirn tobt ein Vulkan. Frau Xu wirft Kölns Oberbürgermeister Jürgen Roters „Unterstützung der Propaganda“ vor, weil der im chinesischen Staatsfernsehen im „Jahr des Drachen“ und 25. Jahr der Städtepartnerschaft zwischen Köln und Peking lächelnd von jenem Drachen sprach, von dem die Westler „einiges lernen“ könnten.

Frau Xu kritisiert die von Unternehmen gestützte Kölner Ringvorlesung zum Thema China, die das „verzerrte China-Bild der Deutschen“ festigen helfe: Sie habe in einem Workshop mit 24 deutschen Studenten gesessen, sagt Xu Pei, und ihre Unterlippe vibriert wieder, „die meisten glaubten, China sei keine Diktatur“. Xu, die in Tibet geboren ist, erinnert an die 24 tibetischen Mönche und Nonnen, die sich in den vergangenen Wochen aus Protest gegen die Unterdrückung verbrannten – ohne dass der Westen aufgeschrien habe.

Xu Pei ist eine zierliche Frau mit großer Wortgewalt. Ihre Verse sind federleicht und ozeantief, sie hat nicht nur Kritiker beeindruckt mit ihren Gedichten, sondern auch die Belle Etage der deutschen Kunst: Markus Lüpertz, Georg Baselitz und Jörg Immendorff haben ihre Bücher illustriert, mit Sigmar Polke saß sie kurz vor dessen Krankheitsausbruch hier im Café Fromme, um über eine Zusammenarbeit zu sprechen, und, natürlich, über China, ihre Heimat, die sie als „Hintermann der Schurkenstaaten“ bezeichnet.

Xu Peis Widerstand ist erst im Westen gewachsen. 1988 kam sie zum Germanistik-Studium nach Düsseldorf. Erst hier, sagt sie, „habe ich erfahren, wie Menschen in China systematisch unterdrückt und verfolgt werden“. Es war die blutige Niederschlagung der demokratischen Studentenbewegung auf dem Platz des himmlischen Friedens 1989, die ihr Interesse an der Frage weckte: „In was für einem Land habe ich eigentlich gelebt?“ In China habe sie, wie fast alle, in einer Blase der Unwissenheit gelebt. Es war die Mutter, eine treue KP-Funktionärin, die ihrer Tochter riet, Deutsch zu lernen. Im besten Fall, um eines Tages den deutschen Außenminister von den Vorzügen Chinas zu überzeugen, erinnert sich Frau Xu, ganz ohne Unterlippenzittern.

Also lernte sie Deutsch. So gut, dass sie in Deutschland promovieren durfte und zahlreiche Stipendien erhielt. Heute übersetzt Xu, wie von den Eltern ersehnt, täglich Texte – freilich nicht, um die chinesischen Machthaber zu stützen, sondern um sie zu stürzen. In China stehen ihre Texte auf dem Index und ihr Name auf einer schwarzen Liste regimekritischer Intellektueller, sagt die Frau, die seit 1996 in Köln lebt, inzwischen die deutsche Staatsbürgerschaft hat, sich aber eher als Chinesin denn als Deutsche fühlt. Ihr Zwischen-den-Welten-Sein hat sie beschrieben: „Der Geist in mir/ sucht Auswege/ in verschiedenen/ Sprachen./ Sein Gesichtspunkt/ in einer Fremdsprache/ kommt den Fremden chinesisch/den Chinesen fremd vor.“

In China droht Xu Gefängnis, in Köln schreckt sie vor niemandem zurück: So attackiert sie Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo, der ein Jahr illegal inhaftiert war und sich danach öffentlich dafür aussprach, dem KP-Regime zu vergeben. Sie prangert an, dass Xiaobo erklärte, es werde besser mit den Menschenrechten in China, und mehr noch: die Menschenrechte gehörten zu den Prinzipien der chinesischen Rechtsprechung. „Liu Xiaobo ist kein aufrechter Freiheitskämpfer oder Bürgerrechtler wie Ai Wei Wei, sondern ein verlogener Opportunist“, sagt sie. Er habe schon 1989 „als Handlanger des Systems gedient“, zum Beispiel, indem er das Tiananmen-Massaker geleugnet habe. „Liu fördert mit seiner Haltung, dass Tibeter, Uiguren und die Anhänger der Glaubensbewegung Falun Gong weiter verfolgt und systematisch ermordet werden, wie es die Nazis mit den Juden taten“.

Den Nazi-Vergleich mag Xu auch nach dem Hinweis, dass es einen als Deutschen frösteln könne bei solchen oft schnell bemühten Parallelen, nicht abschwächen. Es gehe um systematische Verfolgung und Morde ganzer Volksgruppen, „für mich als Chinesin ist der Vergleich ganz klar“.

Ob es nicht aber richtig sei, dass heute deutlich weniger Menschen umgebracht würden in China als noch vor einigen Jahren, zumindest die Richtung also stimme? „Sie verstehen es nicht, vielleicht können Sie es nicht verstehen. Die Zahlen werden geschönt, es wird heute nicht mehr geprahlt mit den Toten, sie werden geheim gehalten. So lässt sich der Westen gern beruhigen, um Geschäfte zu machen.“ Xus Unterlippe zittert jetzt wieder. Wut möchte sie, die praktizierende Buddhistin, ihre Empfindung nicht nennen. Mitleid treffe es eher. Die Wut scheint freilich in ihren Reden und Erklärungen immer mitzuschwingen, und Xu Pei spricht öffentlich, so oft sie kann. Oder fühlt sie doch Ohnmacht?

Xu Pei hält inne; unten klirren Tassen, hier oben bleibt es ruhig. Hier hat Xu Bürgermeisterin Elfi Scho-Antwerpes eine Veranstaltung zu Ai Wei Wei vorgeschlagen, den Künstler, den das chinesische Regime inhaftierte, weil er sich den Mund nicht verbieten ließ. Xu hat bei der deutschen Übersetzung eines Buchs von Ai Wei Wei geholfen, sie seien „Geschwister im Geiste“. Nochmal gefragt: Wut – oder Ohnmacht? Sie sagt: „Ich fühle mich auch nicht ohnmächtig, solange ich etwas tue.“

„Aus der Geschichte lernen“

Egal, dass Scho-Antwerpes sich nach ihrem Vorschlag nicht gemeldet habe. Egal, dass sie kaum noch fürs Übersetzen gebucht werde, seit sie lauter und öfter gegen die deutsch-chinesischen Beziehungen wettert. Xu Pei rudert mit den Armen, wie sie häufig mit den Armen rudert, wenn sie aufgeregt ist, die Unterlippe zittert, ihre Stimme bleibt ruhig, keiner hört sie auf der Empore des Cafés, als sie sagt: „Der Westen macht mit seiner Beschwichtigungspolitik einen Fehler, und jede Handlung hat Konsequenzen.“ Die Deutschen, die sowohl ein rechtstotalitäres wie ein linkstotalitäres Regime überwunden hätten, „müssen aus der Geschichte lernen. Sie dürfen nicht von einer KP-Diktatur vereinnahmt werden, die seit 1949 mindestens 80 Millionen Menschen umgebracht hat“. Dass ihr über das eigene Engagement die Einnahmequellen versiegen, ficht die Dichterin nicht an: Zur Not gehe sie kellnern, zum Beispiel hier, im Café. Xu Pei sagt: „Es ist nicht so wichtig, wo man sein Geld verdient. Man darf nur nicht mit Schurken paktieren, und so tun, als seien es gute Menschen.“

Kölner Stadt-Anzeiger 05.03.2012


Zorneslyrik

Xu Pei verließ China 1988 als Zweiundzwanzigjährige, und ihr Zorn auf das Regime in Peking ist seitdem nicht geringer geworden. Die Liebe zum eigenen Land aber auch nicht, obwohl Frau Xu sich mittlerweile in der deutschen Sprache so sicher bewegt wie im Chinesischen und bereits fünf deutsche Gedichtbände veröffentlicht hat – teilweise als bibliophile Ausgaben, die von Künstlern wie Georg Baselitz, Markus Lüpertz oder Jörg Immendorff illustriert worden sind. Ihr neuester Gedichtband „Himmelsauge“ enthält auch wieder Bilder; doch diesmal hat sie eine Chinesin dafür gewonnen, die in Australien lebende, aber noch in der Heimat klassisch ausgebildete Malerin Zhang Cuiying, die im Jahr 2000 in Peking verhaftet und gefoltert worden war, ehe die australische Regierung ihre Freilassung durchsetzte. „Himmelsauge“ ist nicht nur durch die Beigabe von fünf ihrer Tuschebilder teilweise zu einem politischen Manifest geworden, das allerdings dem deutschen Leser nur dann verständlich wird, wenn er das erzürnte Vorwort von Xu Pei liest oder das beigelegte Lesezeichen beachtet, das für Falun-Gong wirbt. Die fünfzig Gedichte selbst sind asiatisch knapp und verbinden chinesische und westliche Motive. Nur das Auftaktpoem „Im Exil“ ist programmatisch: „Der Geist in mir / sucht Auswege / in verschiedenen / Sprachen / Sein Gesichtspunkt / in einer Fremdsprache / kommt den Fremden chinesisch / den Chinesen fremd vor“.

(Xu Pei: „Himmelsauge„. Gedichte. Edition XIM Virgines, Düsseldorf 2008. 80 S., Abb., geb., 14,90 [Euro].) apl

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.03.2008, Nr. 53 / Seite 34


Mit dem „Himmelsauge“ die Welt betrachten – Neuer Gedichtband der chinesischen Dichterin Xu Pei erschienen

ETD: Sie nennen Ihren neuen deutschen Gedichtband „Himmelsauge“. Das klingt geheimnisvoll. Eine chinesische Exildichterin schreibt auf Deutsch, das macht neugierig. Was wollen Sie Ihren Lesern vermitteln?

Xu:“Himmelsauge“ ist mein fünfter Gedichtband, mit dem ich den Lesern die traditionelle chinesische Lebensart und Weltsicht zeigen möchte, so wie mit meinen anderen Gedichtbänden.
Meine Vorbilder sind chinesische Dichter, die entweder Taoisten oder Buddhisten sind. Li Bai und Du Fu sind zwei bekannte Dichter für Chinesen wie Goethe und Schiller für Deutsche, Li Bai war Taoist und Du Fu war Buddhist. Ihre Gedichte sind auch ins Deutsche übersetzt worden, nur durch die Auswahl und Übertragung der westlichen Sinologen geht der Sinn ihrer Gedichte halb verloren.
Seit Anfang des vorigen Jahrhunderts haben die Kommunistische Partei Chinas, bzw. die linken Intellektuellen mit Marxismus, Leninismus und Stalinismus die chinesische Kultur aus Buddhismus, Taoismus und Konfuzianismus diffamiert und zerstört. Als Chinesin, die erst in Maos Kulturrevolution auf die Welt kam, habe ich in Rotchina wenig von der eigenen Kultur mitbekommen. Erst durch mein Promotionsstudium in Deutschland kam ich dazu, die chinesische Kultur kennen zu lernen und das kommunistische Verbrechen zu erkennen.
So fühle ich mich berufen, die chinesische Kultur den Lesern zu präsentieren und damit dem kommunistischen Regime Widerstand zu leisten.

ETD: In „Himmelsauge“ ist von „Nächstenliebe“ die Rede. Das ist ja ein Begriff aus der christlichen Kultur.

Xu: „Nächstenliebe“ ist von der Sprache her aus der christlichen Kultur. Aber in der chinesischen Kultur existiert sie vom Sinn her auch, sie heißt nicht Bo Ai (Nächstenliebe), sondern Ren Ai. Ren bedeutet Güte, Ai bedeutet Liebe. Ren ist das erste von den fünf konfuzianischen Prinzipien, Ren Yi Li Zhi Xin, sie bedeuten auf Deutsch Güte, Aufrichtigkeit, Anstand, Gelehrsamkeit und Ehrlichkeit. Man soll sich nach ihnen richten.
Ich benutze das Wort Nächstenliebe, um die gleiche Bedeutung auszudrücken. Ich lebe seit Ende 1988 im Westen. Die christliche Kultur hat mich auch beeinflusst und ich möchte auf die Gemeinsamkeiten, die gleichen Grundwerte, wie die Nächstenliebe, hinweisen.

ETD: Der deutsche Dichter und Sinologe Wolfgang Kubin hat kürzlich in einem Interview gesagt, dass die Leserschaft in China Antworten auf lebenswichtige Fragen erwarte, die sie von den dortigen Autoren nicht bekomme. Wie erleben Sie die deutsche Gesellschaft: Gibt es hier auch so ein Interesse an dem, was die Dichter sagen und schreiben?

Xu: In der chinesischen Tradition sind die Dichter wie die Prediger im Westen dazu berufen, den Menschen die lebenswichtigen Fragen zu erklären. Das kommunistische Regime hat aber diese Tradition zerstört, die Gegenwartsautoren in China sind kommunistisch ideologisiert und -terrorisiert. Wie können sie diese Aufgabe erfüllen?
Ich bedaure, dass ich nicht in China veröffentlichen kann. Gott sei Dank gibt es jetzt das Internet, wo man mich von China aus lesen kann, auch wenn man dafür zuerst die kommunistischen Blockaden durchbrechen muss.
Ich genieße in Deutschland die Freiheit, die man in Rotchina nicht hat. Dichten ist eine Berufung, und ich dichte, ohne darauf zu achten, ob es Leser gibt. Glücklicherweise gibt es Menschen in Deutschland, die nach dem Sinn des Lebens suchen, und meine Gedichte könnten ihnen einen Hinweis geben.

ETD: Laut Kubin, taugt die Gegenwartsliteratur in China nichts-ein sehr negatives Urteil über die dortige Literatur der Gegenwart. Inwiefern darf man in China zwar frei sagen, was man denkt, dies aber nicht schreiben?

Xu: Unter der kommunistischen Diktatur gibt es weder freie Informationen, noch Gedankenfreiheit, es fehlt die Voraussetzung für Kreativität. Die chinesischen Schriftsteller der Gegenwart sind Opfer des kommunistischen Systems. Aber die Exilschriftsteller haben durchaus hervorragende Werke zustande gebracht. Die Mao-Biographie von Chang Jung zum Beispiel. Auch der Nobelpreisträger Gao Xingjian hat das Leben und die Leiden der chinesischen Schriftsteller unter dem Regime zum Ausdruck gebracht. Es gibt auch andere gute Schriftsteller und Werke, die leider noch nicht ins Deutsche übersetzt worden sind.

ETD: Auf Ihrer Webseite (http://dr.xu-pei.de/) finden sich in der Rubrik „Olympia“ Texte zu den Olympischen Spielen in Peking 2008. Dort heißt es, dass durch die Spiele keine Öffnung in China stattfinden wird. Warum?

Xu: Ich kenne die Geschichte der deutschen Nazis und der chinesischen Kommunisten, deshalb muss ich Heinrich Mann als Beispiel nehmen und aufrufen, die Olympischen Spiele 2008 zu boykottieren.
Hitler hat damals die Olympischen Spiele missbraucht, um sein Verbrechen zu tarnen. Das gleiche versucht heute auch das kommunistische Regime. Nach Außen hin will das Regime ein Wirtschaftswunder vortäuschen, damit es weiter westliche Investitionen erhält. Gleichzeitig will es als Veranstalter der Olympischen Spiele der Bevölkerung gegenüber seine Macht legitimieren. Nach dem Massaker am Tiananmen 1989, in dem die Demokratiebewegung niedergeschlagen wurde, versucht das Regime eben die Bevölkerung mit Nationalismus zu manipulieren.
Hitler hat damals mit Hilfe von Leni Riefenstahl die Welt betrogen. Jetzt versucht das Regime auch mit Hilfe von Zhang Yimou und seines Gleichen die Welt hinters Licht zu führen.
Wie soll man glauben, dass in China eine Öffnung stattfinden kann, wenn es weder Pressefreiheit, noch Glaubensfreiheit gibt?

ETD: Was kann man machen, wenn man den Olympischen Spielen im August 2008 kritisch gegenüber steht? Wie werden Sie sich persönlich verhalten?

Xu: Ich werde mich bis zum letzten Moment darum bemühen, die Menschen über die authentische Lage in China zu informieren. Meine Aufgabe ist es nur, die Menschen zu informieren. Jedem ist die Entscheidung selbst überlassen, was er macht, wenn er erfährt, dass das Regime unschuldige Menschen wegen Ihres Glaubens an Wahrhaftigkeit, Barmherzigkeit und Duldsamkeit als Organspender in Konzentrationslagern hält.
Ich hoffe, daß niemand nach Peking fliegt, sonst würde er den olympischen Geist beleidigen und das kommunistische Verbrechen unterstützen.

ETD: Wir danken für das Gespräch.

The Epoch Times Deutschland 2.Jan-8.Jan.2008


Großmutter und das Übersinnliche

Vor fünfzehn Jahren kam Xu Pei in den Westen. Ihr Weg führte sie an die Quellen chinesischer Spiritualität zurück. Neue federleichte Gedichte legen davon Zeugnis ab.

In einem früheren Leben sei sie wohl Deutsche gewesen, scherzte Professor Gössmann, ihr Düsseldorfer Doktorvater, anerkennend über Xu Pei, angesichts ihres souveränen und feinfühligen Umgangs mit der deutschen Sprache. Die 37-jährige Chinesin, die 1988 nach Europa kam und heute in Köln wohnt, schreibt ihre Gedichte seit langem auf Deutsch. So sehr scheint ihr diese Sprache zur zweiten Natur, besser gesagt: Kultur geworden zu sein, dass sie kürzlich bei einer Düsseldorfer Lesung nicht allzu viel mit der Frage aus dem Publikum anfangen konnte, wie sie denn den Transfer ihrer poetischen Gedanken aus dem so gänzlich andersartigen Chinesischen bewerkstellige. Wahrscheinlich denkt sie längst sprachübergreifend, falls es so etwas gibt. (Wir sollten sie bei nächster Gelegenheit danach fragen …)
Xu Peis Gedichte sind sparsame, anmutige, federleichte Gebilde, sie strahlen Ruhe und Gefasstheit aus – auch und gerade in ihrem neuen, vierten Bändchen „Schneefrau„. Bäume rauschen darin, Schatten spielen, Schneeflocken schweben, Sterne blinken, unbeirrt fließen Rhein und gelber Fluss. Zwischen Morgen- und Abendröte spannen sich Leben und Liebe, in einem Meer zwischen Fernweh und Heimweh vagabundiert das lyrische Ich. Nie ist da ein Wort zu viel. Das Wesentliche braucht keinen Redeschwall. Klar wie Wasser sind die Verse, auf dass man in die Tiefe sieht.
Direkter und nachdrücklicher als zuvor bezieht sich dabei Xu Pei (der Name wird etwa „Chü Pej“ gesprochen, wobei Xu der Nachname ist) auf die buddhistischen und taoistischen Denktraditionen ihrer Vorfahren. Wie sie im aufschlussreichen Nachwort zur Gedichtsammlung bekennt, ist ihre Großmutter für sie die Schlüsselfigur. Anfang des 20. Jahrhunderts geboren, welches sie auf ihren Lotosfüßen dann fast bis ans Ende durchwanderte (sie wurde beinahe 100), verkörpert diese ehrwürdige Analphabetin für ihre studierte und promovierte Enkelin ein Höchstmaß an Lebensweisheit. „Um zur gleichen Weisheit zu gelangen“, sagt Xu Pei, „musste ich eine Reise in den Westen unternehmen und einen Bücherberg bewältigen.“ Erst in der Fremde begann sie ihre Wurzeln zu entdecken – und die ganze Destruktivität des Pekinger Regimes zu erkennen. Zwei spätere Reisen in die Heimat taten ein Übriges. Xu Pei lernte Menschen aus der Falun Gong-Bewegung kennen, in der alte Lebensregeln („Wahrhaftigkeit, Barmherzigkeit, Duldsamkeit“) und Heilmethoden neu aufleben, trotz brutaler Repression durch die Machthaber. Seit sich Xu Pei auf Falun Gong-Weise selbst von langwierigen Krankheiten kuriert hat, schwört sie auf diesen Weg und wirbt für ihn. „Falun Gong ist keine Sekte“, betont sie dabei immer wieder.
Gern würde die zierliche Frau auch jene übersinnlichen Fähigkeiten erlangen, die sie bei erfahrenen Meistern erlebt hat. Im Grunde aber ist sie davon gar nicht weit entfernt: als Poetin nämlich, die die Kunst beherrscht, auf leichten Versfüßen durch den Kosmos zu balancieren.

Olaf Cless, Düsseldorfer Hefte, 01. Dezember 2003

Xu Pei: Schneefrau. Gedichte. Mit vier Radierungen von Per Kirkeby.
Grupello Verlag, Düsseldorf, 80 Seiten, Euro 16,80


Flügelleichte Kleider

Xu Peis Vorliebe für Schuhe aller Art

„Mit kalten Füßen/ gehe ich/ auf die Suche/ nach neuen Schuhen“. Reiseschuhe, Spitzenschuhe, Samtschuhe, Straßenschuhe, Hemmschuhe, Frauenschuhe, Schlittschuhe, chinesische Schuhe, bestickte Seidenschuhe, drückende Schuhe und rote Tanzschuhe sind Thema des neu erschienen Gedichtbandes von der in Köln lebenden chinesischen Lyrikerin Xu Pei. Schuhe sind in Xu Peis Gedichten ein Ausdruck verschiedener Identitäten. Genau wie man sich andere Schuhe anziehen kann, kann man auch seine Identität ändern. Das Annehmen von verschiedenen Rollen kann wie ein Spiel gesehen werden: “ Ich gehe über den Laufsteg/ und trage bei jedem Gang/ neue bestickte Seidenschuhe“, oder auch als Möglichkeit zum Neuanfang: „Ich poliere ihre Schuhe/ und gehe mit ihnen/ auf eine Weltenbühne“.
Xu Pei, die vor 13 Jahren nach Europa kam, spricht in ihren Gedichten vom Taoismus, von Propagandatänzen und Kampfliedern in der Kindheit, von einer weisen Großmutter, die nicht lesen und schreiben konnte, von einer Braut mit Lotosfüßen und der Sehnsucht zu reisen. „Lotosfüße“ ist auch der Titel des Gedichtbandes und erinnert an die fremde Welt, aus der die Dichterin kommt, und in der es zur Zeit ihrer Großmutter üblich war, die Füße der Mädchen zu bandagieren. Der abendländische Nietzsche, der am Anfang des Buches zitiert wird, wusste schon: „Das Gute ist leicht, alles Göttliche läuft auf zarten Füßen.“
Immer wieder findet man in den Gedichten die Zerissenheit zwischen der Heimat und dem modernen Westen wieder. „Leichtbekleidet/ stelle ich mich vor einen Magier/ und bin bereit zersägt zu werden“. Auch Sprache kann Heimat sein. Pei schreibt auf deutsch, chinesisch und in anderen Sprachen. „Meine Pagode aus Buchstaben/ entsteht in einem fremden Wörtersee“.
Die Gedichte von Pei werden durch sechs farbige Radierungen von Georg Baselitz illustriert. In China sind seit Jahrtausenden Schrift- und Zeichenkunst vereint. Die schöne Edition des Gedichtbandes erzeugt Leselust.
Besonders eindringlich weiß Pei die Liebe und all ihre manchmal paradoxen Formen zu beschreiben. Da ist die Angst vor Nähe, „die Minen der Verteidigung“, die man zum Schutz besitzt, und auf der anderen Seite die Furcht vor zuviel Distanz, „Die Entfernung zwischen dir und mir/ maß ich täglich/ mit eigenen Füßen“, neben dem Bedürfnis zu teilen, „Kaum tratest du näher/ ging mein Tor von alleine auf“. Es gibt die Angst vor Verletzungen, die „flügelleichten Kleider“, die am Boden liegen und nicht zertreten werden dürfen, und den Schmerz nach Verletzungen: „Barfuß lief ich über deine Wiese/ und trat auf einen Igel“. Pei schreibt auch über das Glück der Vereinigung, „Um frei/ in deinen Sommeraugen/ zu schwimmen/ sprang ich nackt hinein“ und die Leere nach dem Verlassenwerden: „Im eisigen Windzug/ entfernte er sich/ und ließ mich wie nackte Bäume stehen“. Auch hier taucht das Motiv der Schuhe wieder auf, und die Befreiung von den Schuhen wird zur Befreiung von einer früheren Lebenssituation und zu einem Neubeginn: „In drückenden Schuhen/ erreichte sie eine Bucht// Ein Seemann befreite ihre Füße/ sie half ihm gegen den Wind zu segeln“.

Eva Sattelmayer, literaturkritik.de, 5/2002, 01. Mai 2002


Europa im Blick

Der Gedichtband »Lotosfüße« von Xu Pei

Im fernen Osten genießt Lyrik einen hohen Stellenwert. Mitteleuropäische Leser halten sich auf diesem Gebiet allerdings zurück. Xu Pei, vor einiger Zeit als Stipendiatin Gast in Lüneburg, wagt es trotzdem und spannt zugleich einen literarischen Bogen. Der startet in China, ihrem Geburtsland, und reicht bis nach Deutschland, wo sie seit 1988 lebt. Eine Grenzgängerin mit großer Wahrnehmungsgabe: »Lotosfüße«, ihr zweiter Gedichtband, verrät diese Fähigkeit in jedem der 44 Gedichte.
Xu Pei gelingen dichte Reflexionen, die auf kulturelle und soziale (Neu-)Orientierung schließen lassen. China im Kopf, Europa im Blick, das ist ihr zentrales Thema. Bis zum Kern radikal verknappt beschreibt die Autorin eine Wanderung zwischen verschiedenen Identitäten. Es gibt Hinweise auf Irritationen, Annäherungen, Unsicherheiten. Subtil, manchmal auch mit einem leisen Anflug von Selbstironie, setzt Xu Pei karge, aber klare Wegmarkierungen ihres »Weltlaufs«, wie sie es in einem autobiographischen Nachwort nennt. Ohne gefällig zu sein erschließen sich die Gedichte durch ihre starke Bildkraft rasch.
Georg Baselitz, bildender Künstler von internationalem Ruf, hat den Band mit sechs Radierungen ausgestattet und schafft damit eine zweite Ebene. Texte und Grafiken addieren sich zu staunenswerten Zeitzeichen der Seele.

Lüneburger Landeszeitung, 05. Dezember 2001


Verse wie hingetupft

Lotosfüße – ein feiner Name für eine Gedichtsammlung, der an gezierte, metrisch gebundene Versfüße denken läßt. Doch es handelt sich um freie Verse, Impressionen, die auf meditative Art wie mit dem Tuschepinsel hingetupft wirken.
Xu Pei, die in Köln lebt und aus China (Kangding) stammt, hat ihren zweiten Gedichtband mit Radierungen von Georg Baselitz in Düsseldorf herausgebracht. Ihre vom Eros und vom Gefühl bestimmten Verse fragen nach der Grenze zwischen zwei Wesen, nach Nähe und Fremdheit, wie sie eine Dame aus dem Osten bei ihrem Gang durch den Westen erfährt. Die Verse sind leichtfüßig und greifen Themen wie Spitzenschuhe und Gangart auf.
Xu Peis poetische Leichtigkeit, die bewunderungswürdig ist, korrespondiert mit der Schwere der Radierungen Baselitz‘. Dessen Fußzeichnungen haftet etwas Bodenständiges an, selbst wenn die Füße »auf dem Kopf stehen« oder wenn auch an den Fersen noch Zehen wachsen. Das Rot der Radierungen paßt zum »Lampionrot« der poetischen Stimmungen, die aus Xu Peis Versen Liebesgedichte machen: »Die Entfernung zwischen dir und mir / maß ich täglich / mit eigenen Füßen.« Dem Gedichtband geht ein Motto von Nietzsche voraus: »Das Gute ist leicht, / alles Göttliche läuft / auf zarten Füßen.« Besser als mit diesem Motto kann Xu Peis Lyrik nicht charakterisiert werden. Es wäre zu hoffen, daß der asiatische Ton den zuweilen schwerfälligen Literaturbegriff der Deutschen aufzulockern hilft.

Neues Rheinland, 01. September 2001


»Ich will Zucker ins Meer streuen«

Portrait der chinesischen Schriftstellerin Xu Pei

Wie Früchte im Bastkorb leuchten mir die zierlichen Schuhe der seit zwölf Jahren in Deutschland lebenden Autorin entgegen, wenn ich ihre Kölner »Pagode aus Worten« betrete. Xu Peis Großmutter, Analphabetin, wurde noch bandagiert, die promovierte Enkelin (Jahrgang 1966) entspricht mit Schuhgröße 35 1/2 auch ohne kosmetischen Eingriff dem Ideal des goldenen Lotosfußes, nach dem ihr neuer Lyrikband benannt ist. »Das Gute ist leicht, alles Göttliche läuft auf zarten Füßen«, hat sie ihm als Nietzsche-Motto vorangestellt und uns damit eine westöstliche Brücke über den Abgrund geschlagen, auf der wir ihre hingetuschte Poesie mit Phantasien füllen können. Ob Xu Pei in Spitzenschuhen durch ihre Kindheit in Kangding tanzt, auf mao- oder taoistischen Pfaden wandelt, an langen Zöpfen herabbalanciert oder in den Spuren verwehter Freier liest: »Ich ziehe es vor / dem Leben / in Ruhe / auf umschatteten Wegen entgegenzukommen.«
Kontemplation und Energie, Spieltrieb und Stille prägen die empfindlichen Idyllen der »Prinzessin im Exil«. Ein Flimmern zwischen Ländern und Kulturen, Mythologie und Märchen, Yin und Yang. Statt großer Töne Demutsgesten, ein weibliches Ich am seidenen Faden, mal rot kostümiert, mal leicht bekleidet und bereit, von einem Magier »zersägt zu werden«. Xu Pei, nach eigener Aussage »heimatlos, kinderlos, familienlos, mannlos und besitzlos« – hat sich ein »Zuhause in der Luft« erdichtet. Ihre Liebe zur romantischen Lyrik war es, die sie zum Studium nach Düsseldorf zog, der Stadt ihres Favoriten Heinrich Heine, dessen subversiver Witz zwischen ihren meditativen Zeilen aufblitzt: »Für ein Paar Reiseschuhe / ließ ich meine Puppen liegen / und fütterte ein Sparschwein // Meine Füße riechen / nach Gummi / Ich suche einen Schuhknecht.«
Doch auch in China, erzählt Xu Pei, wird die Versdichtung der Prosa traditionell vorgezogen. Und wenn der deutsche Idealismus die alte Symbiose von Bild und Text wiederentdeckt hat, so sind in China Schrift- und Zeichenkunst seit Jahrtausenden vereint: »Ein guter Literat kann mit Worten und mit dem Pinsel Bilder malen«, so Xu Pei wehmütig.
Um die fehlende kalligraphische Grazie unserer Buchstabenreihen auszugleichen, läßt sie ihre Bücher von deutschen Malern schmücken. Georg Baselitz hat die »Lotosfüße« illustriert. Im Herbst erscheint der Prachtband »Affenkönig« in Kooperation mit Jörg Immendorf. Eine Hommage an den sagenumwobenen Sun Wu Kong, der einst den indischen Buddhismus nach China geholt haben soll: »Ich bin genauso ein Einzelgänger wie er.«
Xu Pei, die sich, ob vom Kommunismus oder dem Kapital bedrängt, ihren spirituellen Gleichmut erhalten hat, ist eine Meisterin der Solitude, der konsequenten Reduktion. Sie schafft sich Platz zum Atmen, in ihren Lebensräumen wie im Text. Ihre Metaphern funkeln, weil hinter ihnen nicht das Kaufhaus des Westens, sondern das Weiße Papier, die Leere steht: »Der Mann starrt die Frauenschuhe / im Blumenladen an // Jedesmal wenn er weggeht / schaut die Floristin ihm nach // Er verschenkt seine Aufmerksamkeit / Sie ihre violette Orchidee.« Zwei Körper aus Umrißlinien, ohne Volumen und Gewicht, die Bühne bodenlos, der Leser kann sie riechen, betreten kann er sie nicht. Ein Ton, der an die noble Sparsamkeit asiatischen Designs erinnert und doch ohne deutsche Stilmittel – Sprüche, Wortspiele, Komposita – undenkbar wäre. Bis heute habe sie keine gute deutsch-chinesische Übersetzung gelesen, Ideogramm und Alphabet seien einfach nicht kompatibel, meint die Autorin.
Sie selbst schreibt gern in fremden Zungen, zur Zeit italienische Verse in Venedig, und läßt die Stimmen pur nebeneinander stehen: »Ich sage immer, jetzt ist mein deutsches Programm angeschaltet, und dann habe ich mit dem chinesischen gar nichts zu tun.«
Wer mehr als eine Sprache kann, hat mehr als ein Gesicht. Da ihr die Völkerverständigung dennoch am Herzen liegt, hat sie einen bisher, ungedruckten Roman geschrieben, »Long Nü – das Drachenmädchen«, der unsere Vorurteile vom Reich der Mitte korrigieren soll: »Jedes Mal, wenn ich einen Artikel lese, geht es um Katastrophen, Menschenrechtsverstöße, die Unterdrückung der Tibeter, das ist so undifferenziert. Andererseits sind alle chinesischen Berichte über Deutschland zu positiv: wie toll, wie sauber, wie ordentlich. Ich fühle mich berufen, den Deutschen auch die Schönheit Chinas zu vermitteln.«
»Es gibt keine schöne Oberfläche ohne eine schreckliche Tiefe«, noch ein Nietzsche-Zitat. Und wenn die lotoszarte Autorin jetzt in den Fußstapfen August von Platens und Thomas Manns am Canale Grande entlangspaziert, so würden jene die Zeichen der Vergänglichkeit beklagen, Xu Pei aber den Fluß des Lebens feiern, der in der Abendsonne glitzert.

Barbara Maria Kloos, Kölner Stadt-Anzeiger, 09. August 2001

Xu Pei
Lotosfüße. Gedichte. Mit 6 Grafiken von Georg Baselitz.
Grupello Verlag, Düsseldorf, 80 Seiten, Euro 16,80

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Xu Pei, die Dichterin, deren Unterlippe zittert, wenn sie über ihre Heimat spricht, die sich über einen Vergleich zwischen dem kommunistischen Regime in China und deutscher Nazi-Diktatur habilitieren wollte, aber keinen Professor fand, sitzt auf der Empore des Café Fromme in der Breite Straße und spricht über das, was sie nicht verstehen will: den Pakt des Westens mit China, sie nennt es: „Das Schönreden eines menschenverachtenden Staates, nur um der Wirtschaftsbeziehungen willen.“

Auf der Empore ist kein Mensch, sogar die Kellnerinnen lassen sich nicht blicken. Die 45-Jährige trägt einen blütenweißen Pullover, ihre Haut ist mädchenzart; doch hinter der glatten Stirn tobt ein Vulkan. Frau Xu wirft Kölns Oberbürgermeister Jürgen Roters „Unterstützung der Propaganda“ vor, weil der im chinesischen Staatsfernsehen im „Jahr des Drachen“ und 25. Jahr der Städtepartnerschaft zwischen Köln und Peking lächelnd von jenem Drachen sprach, von dem die Westler „einiges lernen“ könnten.

Frau Xu kritisiert die von Unternehmen gestützte Kölner Ringvorlesung zum Thema China, die das „verzerrte China-Bild der Deutschen“ festigen helfe: Sie habe in einem Workshop mit 24 deutschen Studenten gesessen, sagt Xu Pei, und ihre Unterlippe vibriert wieder, „die meisten glaubten, China sei keine Diktatur“. Xu, die in Tibet geboren ist, erinnert an die 24 tibetischen Mönche und Nonnen, die sich in den vergangenen Wochen aus Protest gegen die Unterdrückung verbrannten – ohne dass der Westen aufgeschrien habe.

Xu Pei ist eine zierliche Frau mit großer Wortgewalt. Ihre Verse sind federleicht und ozeantief, sie hat nicht nur Kritiker beeindruckt mit ihren Gedichten, sondern auch die Belle Etage der deutschen Kunst: Markus Lüpertz, Georg Baselitz und Jörg Immendorff haben ihre Bücher illustriert, mit Sigmar Polke saß sie kurz vor dessen Krankheitsausbruch hier im Café Fromme, um über eine Zusammenarbeit zu sprechen, und, natürlich, über China, ihre Heimat, die sie als „Hintermann der Schurkenstaaten“ bezeichnet.

Xu Peis Widerstand ist erst im Westen gewachsen. 1988 kam sie zum Germanistik-Studium nach Düsseldorf. Erst hier, sagt sie, „habe ich erfahren, wie Menschen in China systematisch unterdrückt und verfolgt werden“. Es war die blutige Niederschlagung der demokratischen Studentenbewegung auf dem Platz des himmlischen Friedens 1989, die ihr Interesse an der Frage weckte: „In was für einem Land habe ich eigentlich gelebt?“ In China habe sie, wie fast alle, in einer Blase der Unwissenheit gelebt. Es war die Mutter, eine treue KP-Funktionärin, die ihrer Tochter riet, Deutsch zu lernen. Im besten Fall, um eines Tages den deutschen Außenminister von den Vorzügen Chinas zu überzeugen, erinnert sich Frau Xu, ganz ohne Unterlippenzittern.

Also lernte sie Deutsch. So gut, dass sie in Deutschland promovieren durfte und zahlreiche Stipendien erhielt. Heute übersetzt Xu, wie von den Eltern ersehnt, täglich Texte – freilich nicht, um die chinesischen Machthaber zu stützen, sondern um sie zu stürzen. In China stehen ihre Texte auf dem Index und ihr Name auf einer schwarzen Liste regimekritischer Intellektueller, sagt die Frau, die seit 1996 in Köln lebt, inzwischen die deutsche Staatsbürgerschaft hat, sich aber eher als Chinesin denn als Deutsche fühlt. Ihr Zwischen-den-Welten-Sein hat sie beschrieben: „Der Geist in mir/ sucht Auswege/ in verschiedenen/ Sprachen./ Sein Gesichtspunkt/ in einer Fremdsprache/ kommt den Fremden chinesisch/den Chinesen fremd vor.“

In China droht Xu Gefängnis, in Köln schreckt sie vor niemandem zurück: So attackiert sie Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo, der ein Jahr illegal inhaftiert war und sich danach öffentlich dafür aussprach, dem KP-Regime zu vergeben. Sie prangert an, dass Xiaobo erklärte, es werde besser mit den Menschenrechten in China, und mehr noch: die Menschenrechte gehörten zu den Prinzipien der chinesischen Rechtsprechung. „Liu Xiaobo ist kein aufrechter Freiheitskämpfer oder Bürgerrechtler wie Ai Wei Wei, sondern ein verlogener Opportunist“, sagt sie. Er habe schon 1989 „als Handlanger des Systems gedient“, zum Beispiel, indem er das Tiananmen-Massaker geleugnet habe. „Liu fördert mit seiner Haltung, dass Tibeter, Uiguren und die Anhänger der Glaubensbewegung Falun Gong weiter verfolgt und systematisch ermordet werden, wie es die Nazis mit den Juden taten“.

Den Nazi-Vergleich mag Xu auch nach dem Hinweis, dass es einen als Deutschen frösteln könne bei solchen oft schnell bemühten Parallelen, nicht abschwächen. Es gehe um systematische Verfolgung und Morde ganzer Volksgruppen, „für mich als Chinesin ist der Vergleich ganz klar“.

Ob es nicht aber richtig sei, dass heute deutlich weniger Menschen umgebracht würden in China als noch vor einigen Jahren, zumindest die Richtung also stimme? „Sie verstehen es nicht, vielleicht können Sie es nicht verstehen. Die Zahlen werden geschönt, es wird heute nicht mehr geprahlt mit den Toten, sie werden geheim gehalten. So lässt sich der Westen gern beruhigen, um Geschäfte zu machen.“ Xus Unterlippe zittert jetzt wieder. Wut möchte sie, die praktizierende Buddhistin, ihre Empfindung nicht nennen. Mitleid treffe es eher. Die Wut scheint freilich in ihren Reden und Erklärungen immer mitzuschwingen, und Xu Pei spricht öffentlich, so oft sie kann. Oder fühlt sie doch Ohnmacht?

Xu Pei hält inne; unten klirren Tassen, hier oben bleibt es ruhig. Hier hat Xu Bürgermeisterin Elfi Scho-Antwerpes eine Veranstaltung zu Ai Wei Wei vorgeschlagen, den Künstler, den das chinesische Regime inhaftierte, weil er sich den Mund nicht verbieten ließ. Xu hat bei der deutschen Übersetzung eines Buchs von Ai Wei Wei geholfen, sie seien „Geschwister im Geiste“. Nochmal gefragt: Wut – oder Ohnmacht? Sie sagt: „Ich fühle mich auch nicht ohnmächtig, solange ich etwas tue.“

„Aus der Geschichte lernen“

Egal, dass Scho-Antwerpes sich nach ihrem Vorschlag nicht gemeldet habe. Egal, dass sie kaum noch fürs Übersetzen gebucht werde, seit sie lauter und öfter gegen die deutsch-chinesischen Beziehungen wettert. Xu Pei rudert mit den Armen, wie sie häufig mit den Armen rudert, wenn sie aufgeregt ist, die Unterlippe zittert, ihre Stimme bleibt ruhig, keiner hört sie auf der Empore des Cafés, als sie sagt: „Der Westen macht mit seiner Beschwichtigungspolitik einen Fehler, und jede Handlung hat Konsequenzen.“ Die Deutschen, die sowohl ein rechtstotalitäres wie ein linkstotalitäres Regime überwunden hätten, „müssen aus der Geschichte lernen. Sie dürfen nicht von einer KP-Diktatur vereinnahmt werden, die seit 1949 mindestens 80 Millionen Menschen umgebracht hat“. Dass ihr über das eigene Engagement die Einnahmequellen versiegen, ficht die Dichterin nicht an: Zur Not gehe sie kellnern, zum Beispiel hier, im Café. Xu Pei sagt: „Es ist nicht so wichtig, wo man sein Geld verdient. Man darf nur nicht mit Schurken paktieren, und so tun, als seien es gute Menschen.“

Kölner Stadt-Anzeiger 05.03.2012


Zorneslyrik

Xu Pei verließ China 1988 als Zweiundzwanzigjährige, und ihr Zorn auf das Regime in Peking ist seitdem nicht geringer geworden. Die Liebe zum eigenen Land aber auch nicht, obwohl Frau Xu sich mittlerweile in der deutschen Sprache so sicher bewegt wie im Chinesischen und bereits fünf deutsche Gedichtbände veröffentlicht hat – teilweise als bibliophile Ausgaben, die von Künstlern wie Georg Baselitz, Markus Lüpertz oder Jörg Immendorff illustriert worden sind. Ihr neuester Gedichtband „Himmelsauge“ enthält auch wieder Bilder; doch diesmal hat sie eine Chinesin dafür gewonnen, die in Australien lebende, aber noch in der Heimat klassisch ausgebildete Malerin Zhang Cuiying, die im Jahr 2000 in Peking verhaftet und gefoltert worden war, ehe die australische Regierung ihre Freilassung durchsetzte. „Himmelsauge“ ist nicht nur durch die Beigabe von fünf ihrer Tuschebilder teilweise zu einem politischen Manifest geworden, das allerdings dem deutschen Leser nur dann verständlich wird, wenn er das erzürnte Vorwort von Xu Pei liest oder das beigelegte Lesezeichen beachtet, das für Falun-Gong wirbt. Die fünfzig Gedichte selbst sind asiatisch knapp und verbinden chinesische und westliche Motive. Nur das Auftaktpoem „Im Exil“ ist programmatisch: „Der Geist in mir / sucht Auswege / in verschiedenen / Sprachen / Sein Gesichtspunkt / in einer Fremdsprache / kommt den Fremden chinesisch / den Chinesen fremd vor“.

(Xu Pei: „Himmelsauge„. Gedichte. Edition XIM Virgines, Düsseldorf 2008. 80 S., Abb., geb., 14,90 [Euro].) apl

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.03.2008, Nr. 53 / Seite 34


Mit dem „Himmelsauge“ die Welt betrachten – Neuer Gedichtband der chinesischen Dichterin Xu Pei erschienen

ETD: Sie nennen Ihren neuen deutschen Gedichtband „Himmelsauge“. Das klingt geheimnisvoll. Eine chinesische Exildichterin schreibt auf Deutsch, das macht neugierig. Was wollen Sie Ihren Lesern vermitteln?

Xu:“Himmelsauge“ ist mein fünfter Gedichtband, mit dem ich den Lesern die traditionelle chinesische Lebensart und Weltsicht zeigen möchte, so wie mit meinen anderen Gedichtbänden.
Meine Vorbilder sind chinesische Dichter, die entweder Taoisten oder Buddhisten sind. Li Bai und Du Fu sind zwei bekannte Dichter für Chinesen wie Goethe und Schiller für Deutsche, Li Bai war Taoist und Du Fu war Buddhist. Ihre Gedichte sind auch ins Deutsche übersetzt worden, nur durch die Auswahl und Übertragung der westlichen Sinologen geht der Sinn ihrer Gedichte halb verloren.
Seit Anfang des vorigen Jahrhunderts haben die Kommunistische Partei Chinas, bzw. die linken Intellektuellen mit Marxismus, Leninismus und Stalinismus  die chinesische Kultur aus Buddhismus, Taoismus und Konfuzianismus diffamiert und zerstört. Als Chinesin, die erst in Maos Kulturrevolution auf die Welt kam, habe ich in Rotchina wenig von der eigenen Kultur mitbekommen. Erst durch mein Promotionsstudium in Deutschland kam ich dazu, die chinesische Kultur kennen zu lernen und das kommunistische Verbrechen zu erkennen.
So fühle ich mich berufen, die chinesische Kultur den Lesern zu präsentieren und damit dem kommunistischen Regime Widerstand zu leisten.

ETD:  In „Himmelsauge“ ist von „Nächstenliebe“ die Rede. Das ist ja ein Begriff aus der christlichen Kultur.

Xu: „Nächstenliebe“ ist von der Sprache her aus der christlichen Kultur. Aber in der chinesischen Kultur existiert sie vom Sinn her auch, sie heißt nicht Bo Ai (Nächstenliebe), sondern Ren Ai. Ren bedeutet Güte, Ai bedeutet Liebe. Ren ist das erste von den fünf konfuzianischen Prinzipien, Ren Yi Li Zhi Xin, sie bedeuten auf Deutsch Güte, Aufrichtigkeit, Anstand, Gelehrsamkeit und Ehrlichkeit. Man soll sich nach ihnen richten.
Ich benutze das Wort Nächstenliebe, um die gleiche Bedeutung auszudrücken. Ich lebe seit Ende 1988 im Westen. Die christliche Kultur hat mich auch beeinflusst und ich möchte auf die Gemeinsamkeiten, die gleichen Grundwerte, wie die Nächstenliebe, hinweisen.

ETD: Der deutsche Dichter und Sinologe Wolfgang Kubin hat kürzlich in einem Interview gesagt, dass die Leserschaft in China Antworten auf lebenswichtige Fragen erwarte, die sie von den dortigen Autoren nicht bekomme.  Wie erleben Sie die deutsche Gesellschaft:  Gibt es hier auch so ein Interesse an dem, was die Dichter sagen und schreiben?

Xu: In der chinesischen Tradition sind die Dichter wie die Prediger im Westen dazu berufen, den Menschen die lebenswichtigen Fragen zu erklären. Das kommunistische Regime hat aber diese Tradition zerstört, die Gegenwartsautoren in China sind kommunistisch ideologisiert und -terrorisiert. Wie können sie diese Aufgabe erfüllen?
Ich bedaure, dass ich nicht in China veröffentlichen kann. Gott sei Dank gibt es jetzt das Internet, wo man mich von China aus lesen kann, auch wenn man dafür zuerst die kommunistischen Blockaden durchbrechen muss.
Ich genieße in Deutschland die Freiheit, die man in Rotchina nicht hat. Dichten ist eine Berufung, und ich dichte, ohne darauf zu achten, ob es Leser gibt.  Glücklicherweise gibt es Menschen in Deutschland, die nach dem Sinn des Lebens suchen, und meine Gedichte könnten ihnen einen Hinweis geben.

ETD: Laut Kubin, taugt die Gegenwartsliteratur in China nichts-ein sehr negatives Urteil über die dortige Literatur der Gegenwart. Inwiefern darf man in China zwar frei sagen, was man denkt, dies aber nicht schreiben?

Xu: Unter der kommunistischen Diktatur gibt es weder freie Informationen, noch Gedankenfreiheit, es fehlt die Voraussetzung für Kreativität. Die chinesischen Schriftsteller der Gegenwart sind Opfer des kommunistischen Systems. Aber die Exilschriftsteller haben durchaus hervorragende Werke zustande gebracht. Die Mao-Biographie von Chang Jung zum Beispiel. Auch der Nobelpreisträger Gao Xingjian hat das Leben und die Leiden der chinesischen Schriftsteller unter dem Regime zum Ausdruck gebracht. Es gibt auch andere gute Schriftsteller und Werke, die leider noch nicht ins Deutsche übersetzt worden sind.

ETD: Auf Ihrer Webseite (http://dr.xu-pei.de/) finden sich in der Rubrik „Olympia“ Texte zu den Olympischen Spielen in Peking 2008.  Dort heißt es, dass durch die Spiele keine Öffnung in China stattfinden wird. Warum?

Xu: Ich kenne die Geschichte der deutschen Nazis und der chinesischen Kommunisten, deshalb muss ich Heinrich Mann als Beispiel nehmen und aufrufen, die Olympischen Spiele 2008 zu boykottieren.
Hitler hat damals die Olympischen Spiele missbraucht, um sein Verbrechen zu tarnen. Das gleiche versucht heute auch das kommunistische Regime. Nach Außen hin will das Regime ein Wirtschaftswunder vortäuschen, damit es weiter westliche Investitionen erhält. Gleichzeitig will es als Veranstalter der Olympischen Spiele der Bevölkerung gegenüber seine Macht legitimieren. Nach dem Massaker am Tiananmen 1989, in dem die Demokratiebewegung niedergeschlagen wurde,  versucht das Regime eben die Bevölkerung mit Nationalismus zu manipulieren.
Hitler hat damals mit Hilfe von Leni Riefenstahl die Welt betrogen. Jetzt versucht das Regime auch mit Hilfe von Zhang Yimou und seines Gleichen die Welt hinters Licht zu führen.
Wie soll man glauben, dass in China eine Öffnung stattfinden kann, wenn es weder Pressefreiheit, noch Glaubensfreiheit gibt?

ETD: Was kann man machen, wenn man den Olympischen Spielen im August 2008 kritisch gegenüber steht? Wie werden Sie sich persönlich verhalten?

Xu: Ich werde mich bis zum letzten Moment darum bemühen, die Menschen über die authentische Lage in China zu informieren. Meine Aufgabe ist es nur, die Menschen zu informieren. Jedem ist die Entscheidung selbst überlassen, was er macht, wenn er erfährt, dass das Regime unschuldige Menschen wegen Ihres Glaubens an Wahrhaftigkeit, Barmherzigkeit und Duldsamkeit als Organspender in Konzentrationslagern hält.
Ich hoffe, daß niemand nach Peking fliegt, sonst würde er den olympischen Geist beleidigen und das kommunistische Verbrechen unterstützen.

ETD: Wir danken für das Gespräch.

The Epoch Times Deutschland 2.Jan-8.Jan.2008


Großmutter und das Übersinnliche

Vor fünfzehn Jahren kam Xu Pei in den Westen. Ihr Weg führte sie an die Quellen chinesischer Spiritualität zurück. Neue federleichte Gedichte legen davon Zeugnis ab.

In einem früheren Leben sei sie wohl Deutsche gewesen, scherzte Professor Gössmann, ihr Düsseldorfer Doktorvater, anerkennend über Xu Pei, angesichts ihres souveränen und feinfühligen Umgangs mit der deutschen Sprache. Die 37-jährige Chinesin, die 1988 nach Europa kam und heute in Köln wohnt, schreibt ihre Gedichte seit langem auf Deutsch. So sehr scheint ihr diese Sprache zur zweiten Natur, besser gesagt: Kultur geworden zu sein, dass sie kürzlich bei einer Düsseldorfer Lesung nicht allzu viel mit der Frage aus dem Publikum anfangen konnte, wie sie denn den Transfer ihrer poetischen Gedanken aus dem so gänzlich andersartigen Chinesischen bewerkstellige. Wahrscheinlich denkt sie längst sprachübergreifend, falls es so etwas gibt. (Wir sollten sie bei nächster Gelegenheit danach fragen …)
Xu Peis Gedichte sind sparsame, anmutige, federleichte Gebilde, sie strahlen Ruhe und Gefasstheit aus – auch und gerade in ihrem neuen, vierten Bändchen „Schneefrau„. Bäume rauschen darin, Schatten spielen, Schneeflocken schweben, Sterne blinken, unbeirrt fließen Rhein und gelber Fluss. Zwischen Morgen- und Abendröte spannen sich Leben und Liebe, in einem Meer zwischen Fernweh und Heimweh vagabundiert das lyrische Ich. Nie ist da ein Wort zu viel. Das Wesentliche braucht keinen Redeschwall. Klar wie Wasser sind die Verse, auf dass man in die Tiefe sieht.
Direkter und nachdrücklicher als zuvor bezieht sich dabei Xu Pei (der Name wird etwa „Chü Pej“ gesprochen, wobei Xu der Nachname ist) auf die buddhistischen und taoistischen Denktraditionen ihrer Vorfahren. Wie sie im aufschlussreichen Nachwort zur Gedichtsammlung bekennt, ist ihre Großmutter für sie die Schlüsselfigur. Anfang des 20. Jahrhunderts geboren, welches sie auf ihren Lotosfüßen dann fast bis ans Ende durchwanderte (sie wurde beinahe 100), verkörpert diese ehrwürdige Analphabetin für ihre studierte und promovierte Enkelin ein Höchstmaß an Lebensweisheit. „Um zur gleichen Weisheit zu gelangen“, sagt Xu Pei, „musste ich eine Reise in den Westen unternehmen und einen Bücherberg bewältigen.“ Erst in der Fremde begann sie ihre Wurzeln zu entdecken – und die ganze Destruktivität des Pekinger Regimes zu erkennen. Zwei spätere Reisen in die Heimat taten ein Übriges. Xu Pei lernte Menschen aus der Falun Gong-Bewegung kennen, in der alte Lebensregeln („Wahrhaftigkeit, Barmherzigkeit, Duldsamkeit“) und Heilmethoden neu aufleben, trotz brutaler Repression durch die Machthaber. Seit sich Xu Pei auf Falun Gong-Weise selbst von langwierigen Krankheiten kuriert hat, schwört sie auf diesen Weg und wirbt für ihn. „Falun Gong ist keine Sekte“, betont sie dabei immer wieder.
Gern würde die zierliche Frau auch jene übersinnlichen Fähigkeiten erlangen, die sie bei erfahrenen Meistern erlebt hat. Im Grunde aber ist sie davon gar nicht weit entfernt: als Poetin nämlich, die die Kunst beherrscht, auf leichten Versfüßen durch den Kosmos zu balancieren.

Olaf Cless, Düsseldorfer Hefte, 01. Dezember 2003

Xu Pei: Schneefrau. Gedichte. Mit vier Radierungen von Per Kirkeby.
Grupello Verlag, Düsseldorf, 80 Seiten, Euro 16,80


Flügelleichte Kleider

Xu Peis Vorliebe für Schuhe aller Art

„Mit kalten Füßen/ gehe ich/ auf die Suche/ nach neuen Schuhen“. Reiseschuhe, Spitzenschuhe, Samtschuhe, Straßenschuhe, Hemmschuhe, Frauenschuhe, Schlittschuhe, chinesische Schuhe, bestickte Seidenschuhe, drückende Schuhe und rote Tanzschuhe sind Thema des neu erschienen Gedichtbandes von der in Köln lebenden chinesischen Lyrikerin Xu Pei. Schuhe sind in Xu Peis Gedichten ein Ausdruck verschiedener Identitäten. Genau wie man sich andere Schuhe anziehen kann, kann man auch seine Identität ändern. Das Annehmen von verschiedenen Rollen kann wie ein Spiel gesehen werden: “ Ich gehe über den Laufsteg/ und trage bei jedem Gang/ neue bestickte Seidenschuhe“, oder auch als Möglichkeit zum Neuanfang: „Ich poliere ihre Schuhe/ und gehe mit ihnen/ auf eine Weltenbühne“.
Xu Pei, die vor 13 Jahren nach Europa kam, spricht in ihren Gedichten vom Taoismus, von Propagandatänzen und Kampfliedern in der Kindheit, von einer weisen Großmutter, die nicht lesen und schreiben konnte, von einer Braut mit Lotosfüßen und der Sehnsucht zu reisen. „Lotosfüße“ ist auch der Titel des Gedichtbandes und erinnert an die fremde Welt, aus der die Dichterin kommt, und in der es zur Zeit ihrer Großmutter üblich war, die Füße der Mädchen zu bandagieren. Der abendländische Nietzsche, der am Anfang des Buches zitiert wird, wusste schon: „Das Gute ist leicht, alles Göttliche läuft auf zarten Füßen.“
Immer wieder findet man in den Gedichten die Zerissenheit zwischen der Heimat und dem modernen Westen wieder. „Leichtbekleidet/ stelle ich mich vor einen Magier/ und bin bereit zersägt zu werden“. Auch Sprache kann Heimat sein. Pei schreibt auf deutsch, chinesisch und in anderen Sprachen. „Meine Pagode aus Buchstaben/ entsteht in einem fremden Wörtersee“.
Die Gedichte von Pei werden durch sechs farbige Radierungen von Georg Baselitz illustriert. In China sind seit Jahrtausenden Schrift- und Zeichenkunst vereint. Die schöne Edition des Gedichtbandes erzeugt Leselust.
Besonders eindringlich weiß Pei die Liebe und all ihre manchmal paradoxen Formen zu beschreiben. Da ist die Angst vor Nähe, „die Minen der Verteidigung“, die man zum Schutz besitzt, und auf der anderen Seite die Furcht vor zuviel Distanz, „Die Entfernung zwischen dir und mir/ maß ich täglich/ mit eigenen Füßen“, neben dem Bedürfnis zu teilen, „Kaum tratest du näher/ ging mein Tor von alleine auf“. Es gibt die Angst vor Verletzungen, die „flügelleichten Kleider“, die am Boden liegen und nicht zertreten werden dürfen, und den Schmerz nach Verletzungen: „Barfuß lief ich über deine Wiese/ und trat auf einen Igel“. Pei schreibt auch über das Glück der Vereinigung, „Um frei/ in deinen Sommeraugen/ zu schwimmen/ sprang ich nackt hinein“ und die Leere nach dem Verlassenwerden: „Im eisigen Windzug/ entfernte er sich/ und ließ mich wie nackte Bäume stehen“. Auch hier taucht das Motiv der Schuhe wieder auf, und die Befreiung von den Schuhen wird zur Befreiung von einer früheren Lebenssituation und zu einem Neubeginn: „In drückenden Schuhen/ erreichte sie eine Bucht// Ein Seemann befreite ihre Füße/ sie half ihm gegen den Wind zu segeln“.

Eva Sattelmayer, literaturkritik.de, 5/2002, 01. Mai 2002


Europa im Blick

Der Gedichtband »Lotosfüße« von Xu Pei

Im fernen Osten genießt Lyrik einen hohen Stellenwert. Mitteleuropäische Leser halten sich auf diesem Gebiet allerdings zurück. Xu Pei, vor einiger Zeit als Stipendiatin Gast in Lüneburg, wagt es trotzdem und spannt zugleich einen literarischen Bogen. Der startet in China, ihrem Geburtsland, und reicht bis nach Deutschland, wo sie seit 1988 lebt. Eine Grenzgängerin mit großer Wahrnehmungsgabe: »Lotosfüße«, ihr zweiter Gedichtband, verrät diese Fähigkeit in jedem der 44 Gedichte.
Xu Pei gelingen dichte Reflexionen, die auf kulturelle und soziale (Neu-)Orientierung schließen lassen. China im Kopf, Europa im Blick, das ist ihr zentrales Thema. Bis zum Kern radikal verknappt beschreibt die Autorin eine Wanderung zwischen verschiedenen Identitäten. Es gibt Hinweise auf Irritationen, Annäherungen, Unsicherheiten. Subtil, manchmal auch mit einem leisen Anflug von Selbstironie, setzt Xu Pei karge, aber klare Wegmarkierungen ihres »Weltlaufs«, wie sie es in einem autobiographischen Nachwort nennt. Ohne gefällig zu sein erschließen sich die Gedichte durch ihre starke Bildkraft rasch.
Georg Baselitz, bildender Künstler von internationalem Ruf, hat den Band mit sechs Radierungen ausgestattet und schafft damit eine zweite Ebene. Texte und Grafiken addieren sich zu staunenswerten Zeitzeichen der Seele.

Lüneburger Landeszeitung, 05. Dezember 2001


Verse wie hingetupft

Lotosfüße – ein feiner Name für eine Gedichtsammlung, der an gezierte, metrisch gebundene Versfüße denken läßt. Doch es handelt sich um freie Verse, Impressionen, die auf meditative Art wie mit dem Tuschepinsel hingetupft wirken.
Xu Pei, die in Köln lebt und aus China (Kangding) stammt, hat ihren zweiten Gedichtband mit Radierungen von Georg Baselitz in Düsseldorf herausgebracht. Ihre vom Eros und vom Gefühl bestimmten Verse fragen nach der Grenze zwischen zwei Wesen, nach Nähe und Fremdheit, wie sie eine Dame aus dem Osten bei ihrem Gang durch den Westen erfährt. Die Verse sind leichtfüßig und greifen Themen wie Spitzenschuhe und Gangart auf.
Xu Peis poetische Leichtigkeit, die bewunderungswürdig ist, korrespondiert mit der Schwere der Radierungen Baselitz‘. Dessen Fußzeichnungen haftet etwas Bodenständiges an, selbst wenn die Füße »auf dem Kopf stehen« oder wenn auch an den Fersen noch Zehen wachsen. Das Rot der Radierungen paßt zum »Lampionrot« der poetischen Stimmungen, die aus Xu Peis Versen Liebesgedichte machen: »Die Entfernung zwischen dir und mir / maß ich täglich / mit eigenen Füßen.« Dem Gedichtband geht ein Motto von Nietzsche voraus: »Das Gute ist leicht, / alles Göttliche läuft / auf zarten Füßen.« Besser als mit diesem Motto kann Xu Peis Lyrik nicht charakterisiert werden. Es wäre zu hoffen, daß der asiatische Ton den zuweilen schwerfälligen Literaturbegriff der Deutschen aufzulockern hilft.

Neues Rheinland, 01. September 2001


»Ich will Zucker ins Meer streuen«

Portrait der chinesischen Schriftstellerin Xu Pei

Wie Früchte im Bastkorb leuchten mir die zierlichen Schuhe der seit zwölf Jahren in Deutschland lebenden Autorin entgegen, wenn ich ihre Kölner »Pagode aus Worten« betrete. Xu Peis Großmutter, Analphabetin, wurde noch bandagiert, die promovierte Enkelin (Jahrgang 1966) entspricht mit Schuhgröße 35 1/2 auch ohne kosmetischen Eingriff dem Ideal des goldenen Lotosfußes, nach dem ihr neuer Lyrikband benannt ist. »Das Gute ist leicht, alles Göttliche läuft auf zarten Füßen«, hat sie ihm als Nietzsche-Motto vorangestellt und uns damit eine westöstliche Brücke über den Abgrund geschlagen, auf der wir ihre hingetuschte Poesie mit Phantasien füllen können. Ob Xu Pei in Spitzenschuhen durch ihre Kindheit in Kangding tanzt, auf mao- oder taoistischen Pfaden wandelt, an langen Zöpfen herabbalanciert oder in den Spuren verwehter Freier liest: »Ich ziehe es vor / dem Leben / in Ruhe / auf umschatteten Wegen entgegenzukommen.«
Kontemplation und Energie, Spieltrieb und Stille prägen die empfindlichen Idyllen der »Prinzessin im Exil«. Ein Flimmern zwischen Ländern und Kulturen, Mythologie und Märchen, Yin und Yang. Statt großer Töne Demutsgesten, ein weibliches Ich am seidenen Faden, mal rot kostümiert, mal leicht bekleidet und bereit, von einem Magier »zersägt zu werden«. Xu Pei, nach eigener Aussage »heimatlos, kinderlos, familienlos, mannlos und besitzlos« – hat sich ein »Zuhause in der Luft« erdichtet. Ihre Liebe zur romantischen Lyrik war es, die sie zum Studium nach Düsseldorf zog, der Stadt ihres Favoriten Heinrich Heine, dessen subversiver Witz zwischen ihren meditativen Zeilen aufblitzt: »Für ein Paar Reiseschuhe / ließ ich meine Puppen liegen / und fütterte ein Sparschwein // Meine Füße riechen / nach Gummi / Ich suche einen Schuhknecht.«
Doch auch in China, erzählt Xu Pei, wird die Versdichtung der Prosa traditionell vorgezogen. Und wenn der deutsche Idealismus die alte Symbiose von Bild und Text wiederentdeckt hat, so sind in China Schrift- und Zeichenkunst seit Jahrtausenden vereint: »Ein guter Literat kann mit Worten und mit dem Pinsel Bilder malen«, so Xu Pei wehmütig.
Um die fehlende kalligraphische Grazie unserer Buchstabenreihen auszugleichen, läßt sie ihre Bücher von deutschen Malern schmücken. Georg Baselitz hat die »Lotosfüße« illustriert. Im Herbst erscheint der Prachtband »Affenkönig« in Kooperation mit Jörg Immendorf. Eine Hommage an den sagenumwobenen Sun Wu Kong, der einst den indischen Buddhismus nach China geholt haben soll: »Ich bin genauso ein Einzelgänger wie er.«
Xu Pei, die sich, ob vom Kommunismus oder dem Kapital bedrängt, ihren spirituellen Gleichmut erhalten hat, ist eine Meisterin der Solitude, der konsequenten Reduktion. Sie schafft sich Platz zum Atmen, in ihren Lebensräumen wie im Text. Ihre Metaphern funkeln, weil hinter ihnen nicht das Kaufhaus des Westens, sondern das Weiße Papier, die Leere steht: »Der Mann starrt die Frauenschuhe / im Blumenladen an // Jedesmal wenn er weggeht / schaut die Floristin ihm nach // Er verschenkt seine Aufmerksamkeit / Sie ihre violette Orchidee.« Zwei Körper aus Umrißlinien, ohne Volumen und Gewicht, die Bühne bodenlos, der Leser kann sie riechen, betreten kann er sie nicht. Ein Ton, der an die noble Sparsamkeit asiatischen Designs erinnert und doch ohne deutsche Stilmittel – Sprüche, Wortspiele, Komposita – undenkbar wäre. Bis heute habe sie keine gute deutsch-chinesische Übersetzung gelesen, Ideogramm und Alphabet seien einfach nicht kompatibel, meint die Autorin.
Sie selbst schreibt gern in fremden Zungen, zur Zeit italienische Verse in Venedig, und läßt die Stimmen pur nebeneinander stehen: »Ich sage immer, jetzt ist mein deutsches Programm angeschaltet, und dann habe ich mit dem chinesischen gar nichts zu tun.«
Wer mehr als eine Sprache kann, hat mehr als ein Gesicht. Da ihr die Völkerverständigung dennoch am Herzen liegt, hat sie einen bisher, ungedruckten Roman geschrieben, »Long Nü – das Drachenmädchen«, der unsere Vorurteile vom Reich der Mitte korrigieren soll: »Jedes Mal, wenn ich einen Artikel lese, geht es um Katastrophen, Menschenrechtsverstöße, die Unterdrückung der Tibeter, das ist so undifferenziert. Andererseits sind alle chinesischen Berichte über Deutschland zu positiv: wie toll, wie sauber, wie ordentlich. Ich fühle mich berufen, den Deutschen auch die Schönheit Chinas zu vermitteln.«
»Es gibt keine schöne Oberfläche ohne eine schreckliche Tiefe«, noch ein Nietzsche-Zitat. Und wenn die lotoszarte Autorin jetzt in den Fußstapfen August von Platens und Thomas Manns am Canale Grande entlangspaziert, so würden jene die Zeichen der Vergänglichkeit beklagen, Xu Pei aber den Fluß des Lebens feiern, der in der Abendsonne glitzert.

Barbara Maria Kloos, Kölner Stadt-Anzeiger, 09. August 2001

Xu Pei
Lotosfüße. Gedichte. Mit 6 Grafiken von Georg Baselitz.
Grupello Verlag, Düsseldorf, 80 Seiten, Euro 16,80

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