Mein Weg zur Freiheit  – Zum fünfzigsten Lebensjahr

Für Bürger in der Bundesrepublik Deutschland gehört die Freiheit zur Selbstverständlichkeit, wie die Luft zum Leben. Für Menschen wie mich, die in einem Unrechtsstaat zur Welt kommen, bedeutet die Freiheit manchmal einen Kampf auf Leben und Tod. Deshalb möchte ich meinen persönlichen Weg beschreiben, damit die jüngere Generation die Freiheit in dem geeinigten Deutschland schätzen und verteidigen könnte.

Um die Freiheit in Westdeutschland  zu erreichen, mussten die Deutschen in der von den Kommunisten besetzten Sowjetzone auch zuerst die Berliner Mauer aus verschiedenen Sperren überwinden, wie ich. Im Vergleich zu den Todesopfern an der Berliner Mauer wie z. B. dem zwanzigjährigen Ostberliner Chris Gueffroy, der als letzter Deutscher am 6. Februar 1989 auf der Flucht nach Westberlin erschossen wurde, hatte ich Glück. Am 17. Dezember 1988 konnte ich mit einem Pass der sogenannten Volksrepublik China und einem Studentenvisum für Düsseldorf die Berliner Mauer ohne Gefahr überschreiten.

So stellt die Berliner Mauer den geographischen Anfang meines Wegs zur Freiheit dar. Im Herbst 1983 begann jedoch schon meine Vorbereitung auf diesen Anfang, als ich in Chongqing, der Partnerstadt von Düsseldorf seit 2004, das deutsche Alphabet lernte.

Die Freiheit vom kommunistischen Gedankenkäfig

In einer ‚Farm der Tiere‘ à la George Orwell, in der ich geboren wurde und aufwuchs, fungiert die deutsche Sprache für mich als eine geistige Brücke zur Freiheit, obwohl sie vom NS-Regime und dem SED-Regime in Mitleidenschaft gezogen wurde, was das KP-Regime auch mit meiner Muttersprache gemacht hat. Chinesisch ist eine Symbolsprache. Beispielsweise bedeuten die Schriftzeichen 山 und 川 jeweils Berg und Fluss.

Unter der Direktive von Moskau versuchte aber die Kommunistische Partei Chinas schon 1936 in ihrem Sowjetgebiet ein alphabetisiertes Neusprech einzuführen. Aus dem Schriftzeichen 山 wurde die Umschrift „Shan“. Das Schriftzeichen für Berg wurde durch die 4 Buchstaben komplett ersetzt. Nachdem die Kommunistische Internationale die durch Wahl legitimierte chinesische Regierung auf die Insel Taiwan vertrieben hatte, befahl der kommunistische Diktator Mao Zedong (1893-1976) im Jahr 1951: „die chinesischen Schriftzeichen müssen vereinfacht werden, bevor ihre Alphabetisierung realisiert wird“. So führte das KP-Regime mit Staatsmacht sein Neusprech in die chinesische Sprache ein, deren Schriftzeichen über 3300 Jahre alt sind. Beispielsweise wurde in dem traditionellen Schriftzeichen 產 aus zwei Komponenten (产+ 生) mit der Bedeutung Produzieren das sinngebende Schriftzeichen 生 entfernt. Auf diese Art und Weise wurde die chinesische Sprache formentstellt und sinnentleert.

Festlandschinesen, die seit 1956 in die Schule gehen, haben nur das Neusprech zu lernen und können die überlieferten Werke nicht mehr lesen. Gottseidank konnte das KP-Regime wegen der Vitalität der Schriftzeichen und des Widerstands aus der Bevölkerung seinen Vernichtungsplan nicht durchsetzen. So konnte ich in der Schule das ideologisierte, aber noch nicht latinisierte Rotchinesisch lernen. Das Rotchinesisch ist in vielfacher Hinsicht mit der Amtssprache der DDR zu vergleichen, in der beispielsweise die Berliner Mauer als „Antifaschistischer Schutzwall“ bezeichnet wurde.

Nach dem Tod von Mao 1976 ließ sich die Bevölkerung nicht mehr weiter im Zaum halten. Zum Beispiel flohen die versklavten Bauern in Scharen nach Hongkong. Ganze Dörfer starben aus. Daraufhin folgte die sogenannte „Reform- und Öffnungspolitik“. Als ich 1983 die Aufnahmeprüfung zum Studium in der Fremdsprachen-Hochschule in Chongqing bestand, lernte ich nicht nur Fremdsprachen, sondern auch die „Imperialisten“ in Person kennen. Je mehr Fremdwörter ich von ihnen lernte, desto größer wurde mein durch das Neusprech eingegrenzter Horizont. Durch meine ausländischen Freunde lernte ich auch eine freie Welt kennen, die meine Neugier weckte. Dank ihnen fing ich auch an, mich in einer Fremdsprache auszudrücken. Mein erster deutscher Lehrer machte uns mit Brieffreunden in Westdeutschland bekannt und ich begann, Briefe auf Deutsch zu schreiben. Unbewusst verließ ich den Gedankenkäfig der KP Chinas, sodass ich erst den Mut hatte, mich mit einem DDR-Flugzeug in die angeschwärzte freiheitliche Fremde zu wagen.

Als ich gegen das welterschütternde Tiananmen-Massaker 1989 protestierte, lernte ich zum ersten Mal Exilchinesen kennen. Durch sie lernte ich in Düsseldorf bewusst das traditionelle Chinesisch und die chinesische Kultur aus Konfuzianismus, Buddhismus und Taoismus kennen. Dank der Informationsfreiheit in Deutschland konnte ich seitdem die von den Kommunisten verfälschte Geschichte berichtigen. Beispielsweise haben die Menschen durch die Gründung der sogenannten „Volksrepublik China“ alle Rechte, die in der Republik China garantiert sind, verloren. Aber den Menschen wird bis heute in der Schule eingetrichtert, dass die Kommunisten die Chinesen befreit hätten. „Befreiung“ auf Rotchinesisch bedeutet nämlich Versklavung.

Mein Preis für die Gedankenfreiheit

In der ‚Farm der Tiere‘ gehörte ich zu den Schweinen, die keine Menschenrechte, aber Sonderrechte genießen konnten. Deshalb brauchte ich nicht ein einziges Mal zu kochen in den zweiundzwanzig Jahren, die ich in der VR China verbrachte. Erst in Deutschland lernte ich, mich um den Alltag zu kümmern und alles selbst zu bewältigen.

Nach sieben Jahren vermisste ich die alte Bequemlichkeit und war drauf und dran, in die VR China zurückzukehren, als mein Promotionsstudium zu Ende ging. 1996 stellte ich jedoch in Peking fest, dass es für mich bereits unmöglich geworden war, wieder in einer Einparteien-Diktatur zu leben. Denn ich habe durch mein Studium in Düsseldorf das kritische Denken von Hannah Arendt gelernt und lasse mich nicht mehr betrügen wie zuvor. Wenn ich eine Stelle an den Universitäten, die alle unter der KP-Führung stehen, annehmen würde, müsste ich die systematischen Lügen mittragen. Beispielsweise müsste ich der KP-Behauptung zustimmen, dass es kein Tiananmen-Massaker gegeben hätte, und die Opfer des Massakers „konterrevolutionäre Gewalttäter“ wären. Andernfalls würde ich verfolgt. Ich war auch nicht bereit, mundtot zu leben.

Nach diesem Heimkehrversuch entschied ich mich für das Bleiben in Deutschland, auch wenn ich darunter litt, nicht heimkehren zu können. Wegen der Freiheit verzichtete ich lieber weiter auf die vermisste, vertraute Lebensart in der Heimat und freundete mich mit dem Alltag in der Fremde an.

Seitdem lebe ich in Köln als freiberufliche Autorin, die in der Freiheit mit gutem Gewissen lebt und lächelt.

Die Freiheit zur Verantwortung

Ende 2001 brachte mich das Heimweh ein zweites Mal in die VR China zurück, in der die Olympischen Spiele 2008 stattfinden durften. Ich dachte wieder an eine Heimkehr, mit der ich meine Eltern erfreuen könnte.

In dem zweimonatigen Aufenthalt in der VR China nahm ich aber eine Umweltzerstörung wahr, die mit dem sogenannten Wirtschaftsaufstieg nicht aufzuwiegen ist. Die Meinungsfreiheit, die ich zum Leben brauche, war dort weiter nicht zu finden. Dabei fiel mir die Falun Gong-Verfolgung durch das KP-Regime auf.

In Köln konnte ich mich in Ruhe mit der Lehre und weltweiten Bewegung von Falun Gong auseinandersetzen, deren Grundprinzipien „Wahrhaftigkeit, Barmherzigkeit und Duldsamkeit“ mit den universellen Grundwerten kompatibel sind. Als ich mein Ergebnis in zwei chinesischsprachigen Printmedien in Deutschland veröffentlichen wollte, die mich bis dahin immer wieder um Beiträge baten, stellte sich heraus, dass das KP-Regime die Falun Gong-Verfolgung schon ins Ausland exportiert hatte. Ich fühlte mich verpflichtet, meine Erkenntnisse mithilfe des Internets auf Chinesisch publik zu machen. Dank des Internets lerne ich Schriftstellerkollegen im Land und im Exil kennen, die sich für ein freies China einsetzen.

Mein erster Redakteur übers Internet Huang Jinqiu (1974*) wurde 2003 bei seiner Heimkehr in die VR China wegen seinen Veröffentlichungen verschleppt und dann zur Haft von 12 Jahren verurteilt. Danach wurden weitere Kollegen ins Gefängnis geworfen, darunter Zhang Jianhong (1958-2010), der bereits durch die Verfolgung umkam.

Um sie zu unterstützen, muss ich den hohen Preis in Kauf nehmen, auf alle Vorteile zu verzichten und meine Heimat nicht mehr betreten zu können, solange die Kommunisten an der Macht sind.

Das heißt, Menschen aus der VR China dürfen auch nicht im Ausland Meinungsfreiheit haben, falls sie ihre Lieben noch besuchen wollen. Auch Ausländer, die sich für die Menschenrechte in der VR China einsetzen,  wie mein ehrenamtlicher Webmaster, werden vom KP-Regime mit Einreiseverbot belegt. Dennoch wird großer Widerstand gegen das Terrorregime geleistet, so traten 2006 mutige Zeugen an die Weltöffentlichkeit, um den systematischen Organraub an Falun Gong-Praktizierenden durch das KP-Regime anzuprangern.

Durch die Freiheit, die das KP-Regime in Peking der Bevölkerung raubt, kann ich seit dem Tiananmen-Massaker im Westen meine chinesischen Gedanken auf Deutsch zum Ausdruck bringen, um mich mit den Lesern auszutauschen.

Dank des Internets kann ich seit 2003 die Freiheit, die ich in Deutschland genieße, gezielt dafür einsetzen, die zunehmenden Tabus der KP Chinas zu brechen, um die Freiheitskämpfer zu unterstützen, die in der VR China wegen ihres Widerstands verfolgt und sogar umgebracht werden.

In Deutschland konnte ich die Freiheit erlangen, in der ich aus ganzem Herzen die universellen Grundwerte mit Worten verteidige und mich auf die Freiheit für die Menschen in den totalitären Ländern freuen kann.

 

Köln, Oktober 2016

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